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Irina Peter liest an der DBS

Deutsche aus einer anderen Welt

Text: Gießener Allgemeine vom 01.10.2025 - von Ursula Sommerlad;  Foto: privat 

Russlanddeutsche sind autoritätsgläubig, verehren Putin und wählen häufig AfD. Solchen Vorurteilen tritt Ira Peter entschieden entgegen. Die Journalistin, selbst Tochter von Aus- siedlern aus Kasachstan, hat ein Buch geschrieben: »Deutsch genug - Warum wir endlich über Russlanddeutsche reden müssen«. Mit Schülern in Lich und Hungen sprach sie über ihre Erfahrungen.

Der Dialog vor Beginn der Veranstaltung war symptomatisch: »Du bist doch auch Russin«, sagt ein Junge zu seiner Mitschülerin. Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin Deutsche. Ich bin hier geboren.« »Aber dein Vater kommt doch aus Russland.« Erneut Kopfschütteln: »Nein. Er ist in Kasachstan geboren. Aber er ist Deutscher.«

Mindestens 2,5 Millionen Russlanddeutsche sind seit den späten 1980er Jahren in die Bundesrepublik eingewandert. Sie fallen in der Mehrheitsgesellschaft nicht weiter auf. Aber manche Vorurteile halten sich hartnäckig.

Dass sie russisches Fernsehen schauen. Dass sie Putins Propaganda folgen. Und dass sie bevorzugt die AfD wählen. Die Journalistin Ira Peter, die selbst im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie aus Kasachstan in den Odenwald kam, hält mit einem Buch dagegen: »Deutsch genug - Warum wir endlich über Russlanddeutsche sprechen müssen«, lautet der Titel.

Auf Einladung der Landeszentrale für politische Bildung tourt die 42-Jährige aktuell durch Hessen. Vergangene Woche stellte sie ihr Buch, in dem sie das Schicksal der Russlanddeutschen mit ihrer eigenen Familiengeschichte verknüpft, gemeinsam mit Moderator Christoph Giesa bei mehreren Lesungen vor: an der Dietrich-Bonhoeffer-Schule in Lich, an der Gesamtschule Hungen und in einer Abendveranstaltung im Gedenk- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen. Begleitet wurde sie von Andreas Hofmeister, dem Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler. »Wir wollen mit dieser Veranstaltung vor Augen führen, wohin Unrechtsregime führen«, sagte Hofmeister in der voll besetzten Aula in Hungen vor Schülern der Oberstufe.

Manche von ihnen dürften einiges, was Ira Peter erzählte, aus der eigenen Familiengeschichte kennen. Man gehe mit den Lesungen bewusst in Orte, in denen viele Russlanddeutsche wohnen, sagte Natalie Burg, Referatsleiterin bei der Landeszentrale.

Wie Ira Peter lebten die meisten Russlanddeutschen vor ihrer Auswanderung in Kasachstan. Aber die eigentlichen Siedlungsgebiete der Deutschen im zaristischen Russland lagen woanders: an der Wolga, in der Schwarzmeerregion oder in der westlichen Ukraine. Erst Stalin ließ die Angehörigen der deutschen Minderheit ab 1936 und verstärkt nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 in den Osten des riesigen Reichs deportieren. Als potenzielle Spione im Dienste Hitlers wurden sie in die kasachische Steppe oder in die Kälte Sibiriens verbracht.

»Die Russlanddeutschen sind eine heterogene Gruppe«, sagt Ira Peter. Aber eines sei allen Familien gemein: die Erfahrung der Deportation, der Verlust von Angehörigen, das entbehrungsreiche Leben in Sondersiedlungen und Gulag. »Dass heute in Russland wieder Stalin gefeiert wird, macht mich traurig und wütend zugleich.«

Die Autorin ist in einem hauptsächlich von Deutschen bewohnten Dorf nahe der heutigen kasachischen Hauptstadt Astana aufgewachsen. In den späten 1980er Jahren begannen sich die Häuser zu leeren. Immer mehr Familien entschieden sich für die Aussiedlung. 1992 war es auch bei den Peters so weit. Doch das »Gummibärchen-und-Barbie-Paradies«, von dem die kleine Ira träumte, entpuppte sich als Enttäuschung. »Wir waren Deutsche, aber wir kamen aus einer anderen Welt«, bilanziert die Autorin. Zudem war Deutschland proppenvoll in diesen Jahren. Zu den Aussiedlern aus Polen, Rumänien, Ungarn und der zusammenbrechenden Sowjetunion kamen die Kriegsflüchtlinge vom Balkan. Für die Deutschen aus der Ex-Sowjetunion war kein Platz, das böse Wort vom »deutschen Schäferhund in der Ahnengalerie« machte die Runde. Die Mehrheitsgesellschaft sprach über Drogen- und Alkoholprobleme und über Gettobildung. »Man pickt sich einzelne Problemfelder raus und überträgt sie auf die ganze Gruppe«, kritisiert Peter. Dass nur die wenigsten Berufsabschlüsse der Zuwanderer anerkannt wurden, hat bis heute Auswirkungen. Die Russlanddeutschen arbeiteten in schlecht bezahlten Jobs. Ira Peters Mutter zum Beispiel, die in der Sowjetunion ein kaufmännisches Studium absolviert hatte, ging putzen. In der Generation ihrer Eltern, die mittlerweile Rentner sind, seien 50 Prozent von Altersarmut betroffen, berichtete die Journalistin.

Auch die Kinder hatten es schwer. Ira Peter erinnert sich, dass es lange gedauert habe, bis sie von Klassenkameradinnen zum Geburtstag eingeladen worden sei. Sie selbst habe als Gymnasiastin ihre Herkunft nach Möglichkeit verschleiert. »Da war immer die Angst, nicht deutsch genug zu sein.« Und sie habe sich ihrer Eltern geschämt, die bis heute nicht Hochdeutsch sprechen, sondern den rutheniendeutschen Dialekt, in dem es »Deitschland« heißt und nicht »Deutschland«. Durch die Beschäftigung mit der leidvollen Geschichte ihrer Vorfahren hat die Journalistin ihre Haltung grundlegend geändert. »Jetzt habe ich sehr, sehr viel Respekt vor den Leistungen meiner Familie.« Einen Rat legte sie ihren jungen Zuhörern ans Herz: »Fragt Eure Eltern, Großeltern und Urgroßeltern nach Eurer Familiengeschichte, ganz egal, woher sie kommen: Ihr werdet auch viel über Euch selbst erfahren.«

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